Abkehr

2009 erschien mit „Einkehr zum tödlichen Frieden“ der erste Krimi um die ehemalige Moderedakteurin Katja Klein, die es in das Eifeldorf Kehr verschlägt, wo sie prompt in einen Mordfall verwickelt wird …

Damals hat die Autorin, Martina Kempff, wohl nicht im Traum daran gedacht, dass Katja und ihr Freund, der belgische Polizist Marcel Langer, künftig fast jedes Jahr einen neuen Fall lösen würden – sehr zur Freude einer wachsenden Fangemeinde.

Meine persönliche Geschichte mit Katja und Marcel begann 2010 mit dem zweiten Roman „Pendelverkehr“,den ich als Reiselektüre für eine Bahnfahrt nach Berlin kaufte – und der mich sofort begeisterte..

2014 lernten wir die Autorin  auf einer Lesung in Königswinter persönlich kennen. Mittlerweile gehört die Jahresendlesung von Martina Kempff am 28. Dezember in Cochem für uns zum festen Programm. Letztes Jahr diskutierten wir weit nach Mitternacht über die Umbenennung der „Deutschsprachigen Gemeinschaft“ Belgiens in „Ostbelgien“. Daraus ergab sich die Frage, was wäre, wenn die deutschsprachigen Belgier sich von Brüssel lossagen würden, was mich zu der – nicht immer ganz ernst gemeinten – Kurzgeschichte „Abkehr“ inspirierte.

Dass Martina die Idee im gerade erschienenen neunten Band hat einfliessen lassen, freut mich natürlich besonders („Messer, Gabel, Kehr und Mord“, sechstes Kapitel).


Samstag, 8. Juni 2019. 02:18 Uhr
Erschöpft schliesst Katja die Tür der „Einkehr“ ab, hakt sich bei Marcel unter. Gemeinsam überqueren sie die B 265 und werden auf belgischer Seite von einem freudig bellenden Linus begrüsst, der seine Streicheleinheiten einfordert. Beleidigt trollt er sich, als Katja müde abwinkt. In ihrem Haus angekommen, zieht Katja nur ihre Schuhe aus, legt sich auf das bequeme Sofa im Wohnzimmer und ist innerhalb einer Minute eingeschlafen.

Marcel legt sich zu ihr, deckt sie beide mit der einer Decke zu und bedenkt die Frau neben ihm mit einem gleichermassen verliebten wie verständnisvollen Blick: Die Reisegruppe, die am Mittag ankam und bis weit nach Mitternacht in der „Einkehr“ feierte, hatte Katja und die gesamte Küchenmannschaft nicht nur in logistischer Hinsicht an die Grenze ihrer Kapazitäten gebracht. Es handelte sich um Mitglieder der „Schottischen Unabhängigkeitspartei“ (SIP), die sich erst kurz nach der „Brexit“-Entscheidung gegründet hatte, mit dem Ziel, sich von Grossbritannien loszusagen. Mit ihrer Reise quer durch Europa wollten sie das Netzwerk nationalistischer und separatistischer Bewegungen stärken. Nachdem sie gestern Vertreter des „Vlaams Belang“ getroffen hatten, war für morgen ein Gespräch mit der Führungsriege der Partei „Freies Ost-Belgien“ geplant. Oberstes Ziel der erst wenige Wochen nach dem geplanten Austritt Grossbritanniens aus der EU Ende März 2019 gegründeten FOB war die Unabhängigkeit der „Deutschsprachigen Gemeinschaft“  (DG) vom Königreich Belgien.

Bei den Wahlen zum Parlament der DG am 19. Mai brachte es die FOB allerdings nur auf gerade einmal 0,51 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Der Vorsitzende der Partei, Lucien Muehlen sprach daraufhin von Wahlbetrug der etablierten Parteien und kündigte an, man werde „mit allen notwendigen und verfügbaren Mitteln“ dagegen vorgehen und auf die Unabhängigkeit Ost-Belgiens hinarbeiten.

Mit jeder Runde Bier wurden die Gemüter der Schotten hitziger, die Sprüche niveauloser. Katja war froh, dass David in der Küche nicht mitbekam, wie ihre „Gäste“ über die Vereinigten Staaten herzogen. Als dann bei der Abrechnung die brandneue, teure Computerkasse das Komma um eine Stelle nach rechts versetzte und so aus 50,00 Euro 500 machte, wurden die mittlerweile stark alkoholisierten Gäste ausfallend und Katja hatte Angst, die Schotten würden das Restaurant auseinandernehmen. Vermutlich hatte nur die Anwesenheit Marcels – wie so oft verbotenerweise in belgischer Polizeiuniform – Schlimmeres verhindert. Als die Gruppe um kurz vor zwei Uhr in der Nacht johlend und grölend abreiste, schwor Katja sich, nie wieder eine schottische Reisegruppe in der „Einkehr“ aufzunehmen …

Samstag, 8. Juni 2019, 04:37 Uhr
Katja schreckt hoch, aufgeweckt von Böllerschüssen und lauten „Hurra! Wir sind frei!“-Rufen. Durch das Wohnzimmerfenster sind explodierende Feuerwerkskörper zu sehen. Nun schlägt auch Marcel die Augen auf, braucht einen Moment, um sich zu orientieren und sieht dann seine Freundin an. Die zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung …“. Marcel erhebt sich, richtet seine vom Liegen zerknautschte Uniform notdürftig und geht nach draussen. Gejohle schlägt ihm entgegen, als er die Haustür öffnet.

Eine Menschentraube hat sich auf der belgischen Seite der Bundesstrasse 265 gebildet, die an der Grenze zwischen Deutschland und dem Königreich entlangführt. Viele schwenken die Fahne OstBelgiens, doch auch die der FOB ist zu sehen. Marcel erkennt zahlreiche Bürger aus dem belgischen Teil der Kehr sowie benachbarter Orte, darunter auch Hannes Definck, seines Zeichens Leiter der Verwinkelter Ortsgruppe der FOB. Er mochte den Mann nicht besonders, der in der Vergangenheit öfter durch rechtsradikale Ansichten aufgefallen war. Als Definck den Polizisten sieht, kommt er grinsend auf ihn zu, schlägt ihm jovial auf die Schulter und meint mehrdeutig „Ja, Brigadier Langer, da werden Sie wohl demnächst einen neuen obersten Dienstherren haben …“. „Wieso, was ist denn los? Was soll der Lärm?“ fragt Katja verschlafen, die zwischenzeitlich ebenfalls aufgestanden war und nun neben Marcel steht. „Was los ist?“ johlt Definck „Der Wahlbetrug ist aufgeflogen. Wahrscheinlich war die Software der Computer manipuliert, die die abgegebenen Stimmen erfassen sollten. Von wegen 0,51 Prozent!“ meint der Ortsgruppenleiter mit verächtlicher Miene: „Setzen Sie das Komma mal zwei Stellen nach rechts, dann passt es!“ fährt er höhnisch lachend fort.

„Was? Soll das heissen, die FOB hat …“ setzt Katja verdattert an, wird jedoch von Hannes unter-brochen: „Genau das heisst es – EINUNDFÜNFZIG Prozent. EINUNDFÜNFZIG! Einundfünfzig Prozent!“ Definck wird nicht müde, die Zahl zu wiederholen. „Um ganz genau zu sein: 51,8! Das bedeutet, wir haben die absolute Mehrheit! Als das feststand, hat Lucien das alte Parlament sofort auflösen lassen. Nachdem er von allen FOB-Abgeordneten einstimmig zum neuen Ministerpräsidenten der DG gewählt wurde, war seine erste Amtshandlung, Brüssel gegenüber die Unabhängigkeit der deutschsprachigen Gemeinschaft vom Königreich zu erklären. Sie sehen, wir haben Wort gehalten!“ strahlt Definck die Beiden an. „Muehlen wurde anschliessend zum provisorischen Präsidenten derFreien  Republik Ost-Belgien gewählt. Natürlich haben die Abgeordneten von ProDG und CSP geheult wie getretene Schlosshunde“ erzählt Definck mit Häme in der Stimme. „Aber das Volk hat entschieden einundfünfzig Komma acht Prozent! Weg von Brüssel! Es lebe die Freie Republik Ost-Belgien!“ skandiert er, unterstützt von Parteigenossen, die sich zwischenzeitlich um ihn geschart haben.

„Schön und gut, aber dauert der Krach hier noch lange? Ich bin hundemüde und will schlafen“, gähnt Katja. „Aber … aber Frau Klein“ stottert Definck leicht fassungslos. „Diesen historischen Moment wollen Sie VERSCHLAFEN?“ Um dann leicht gehässig nachzusetzen „Aber ich vergass – Sie sind ja Deutsche … Na dann: Gute Nacht!“ Damit verschwindet er mit seinen Parteikameraden wieder in der jubelnden Menge.

Keine fünf Minuten später liegt Katja wieder tief und fest schlafend auf der Couch. Marcel hat die
Jalousien heruntergelassen, so dass der Lärm von draussen nur gedämpft ins Haus dringt.

—oOo—

„Schiet nog een kier! Was ist DAS denn schon wieder!?“ Marcel sitzt kerzengerade im Bett. Draussen werden militärische Befehle laut auf deutsch erteilt, das kreischende Geräusch, wenn Metall auf Metall schrammelt wechselt sich mit dumpfen Lauten und Quietschen ab, so wie wenn Metall über Asphalt oder Beton schleift.

Während Marcel noch sein hellblaues Diensthemd zuknöpft, hastet er zur Tür, öffnet sie und – glaubt seinen Augen nicht zu trauen! Entlang der Westseite der B265, also dort, wo Belgien beginnt, sind Angehörige der deutschen Bundespolizei dabei, einen Gitterzaun aus Fertigteilen zu errichten. „Djü! Was macht ihr denn da?“ ruft er fassunglos, während er auf die Strasse zugeht. Ein hochgewachsener, breitschultriger Polizist wendet sich ihm zu: „Guten Morgen Kollege. Ich bin Polizeiobermeister Kayser – Kayser mit a und y“ fügt er mit dem Anflug eines Lächelns hinzu. „Was wir hier machen? Grenzsicherung! Nachdem ihr euch vom Königreich Belgien losgesagt habt, gelten natürlich auch die Abkommen und Verträge, die Brüssel geschlossen hat, nicht mehr für euch. Ihr seid also im Moment nicht Mitglied der Europäischen Union und auch das Schengen-Abkommen gilt nicht für die Republik Ost-Belgien. Und da das so ist, hat unser grosser Manitu, Seehofers Horst, beschlossen: „Die Grenze muss gesichert werden!“ Er grüsst die mittlerweile hinzugekommene Katja mit einem Kopfnicken und schliesst dann mit Sarkasmus in der Stimme: „Und wer darfs richten? Natürlich wir von der Bundespolizei. Werden zu nächtlicher Stunde aus den Betten gejagt
um hier am – Verzeihung – Arsch der Welt Deutschlands Freiheit gegen das mächtige Ost-Belgien zu sichern …“ klagt Herr Kayser mit deutlich vernehmbarem Sarkasmus.

„Also, schlafen kann ich jetzt eh nicht mehr“ meint Katja. „Da kann ich genauso gut die Küche in der „Einkehr“ vorbereiten. Herr Kayser mit a und y – lassen Sie uns doch bitte mal da durch“ sagt sie fröstelnd und rüttelt demonstrativ an zwei miteinander verbundenen Elementen des Gitterzauns. „Äh, wie jetzt? Nee, Madame, das geht natürlich nicht. Was meinen Sie denn, wofür wir hier den Zaun aufbauen? Wenn Sie nach Deutschland einreisen wollen, müssen Sie das schon an einem offiziellen Grenzübergang machen. Der nächste ist meines Wissens in Hartenbach geplant.“

„Wie bitte?“ fährt Katja den Bundepolizisten ungläubig an. „Das ist doch nicht ihr Ernst?“ „Nee, unser Horst, Madame. Oder eigentlich ihr Lucien und …“ „Das ist nicht MEIN Lucien, zum Donnerwetter. Der und seine FOB können mich kreuzweise! Ausserdem bin ich Deutsche, die …“ „sich derzeit auf dem Gebiet Ost-Belgiens befindet.“ unterbricht der Polizist. „Sie können natürlich gerne jederzeit wieder in die BRD einreisen – an einem offiziellen Grenzübergang.“ ergänzt er. „Und wie bitte soll ich dahin kommen?“ fragt Katja mit hochrotem Kopf. „Na, ich denke, ihr Eifeler habt alle ein Auto …“ wirft der deutsche Grenzschützer ein. „Oh ja, das habe ich. Natürlich!“ Katjas Augen funkeln gefährlich „Und wissen Sie, wo das steht? Dort drüben! Vor dem Restaurant! Auf DEUTSCHEM Boden!“. „Das hat aber belgische Nummernschilder“ entgegnet Polizeiobermeister Kayser. „Plaquen“ verbessert ihn Marcel, worauf der Deutsche ihn irritiert ansieht: „Was?“ „Plaquen“ wiederholt Marcel gereizt. „Bitte was?“ hakt der Grenzschützer nach. „Vergessen Sie’s“ meint Katja. „Selbst wenn der Wagen HIER vor dem Haus stehen würde. Wie sollen wir denn nach Hartenbach kommen?“ „Auf der Strasse natürlich!“ ruft Herr Kayser laut und fröhlich wie ein Kind, das eine schwierige Mathematik-Aufgabe richtig gelöst hat. „Hier auf der B …“ er verstummt. „Ach nee, das geht ja nicht, die liegt ja in Deutschland …“ „Blitzmerker!“ antwortet Katja und verschränkt die Arme vor der Brust. “Scheisse, war machen wir denn da jetzt?“ denkt der Deutsche laut nach und gibt sich dann einen Ruck. „Also gut, ich lasse sie jetzt AUSNAHMSWEISE hier einreisen. Ich muss aber ihren Personalausweis sehen, damit ich weiss, dass sie auch wirklich Bürgerin der BRD sind.“. Katjas Miene, die sich gerade etwas aufgehellt hatte, verfinstert sich wieder „Mist, der liegt auch im Auto …“

„Na gut, dann zeigen Sie ihn mir hinterher, in Ihrem Restaurant. Gibt’s da auch nen guten Kaffee?“ „Aber natürlich, Herr Kayser, ich mach Ihnen den besten und stärksten auf der ganzen Kehr!“ Damit schlüpft Katja durch die eben geschaffene Lücke im Zaun. Marcel will ihr folgen, wird jedoch vom deutschen Polizeiobermeister zurückgewiesen „Stop, Herr Kollege. Das geht jetzt aber wirklich nicht. Sie können nicht in Uniform nach Deutschland einreisen, Sie haben hier schliesslich keinerlei Amtsbefugnisse.“ Marcels Kehle entringt sich ein tiefer Seufzer – „Das kann ja noch heiter werden“ denkt er.

Dienstag, 11. Juni 2019, 10:29 Uhr
Erwartungsvoll blicken Marcel und seine Kollegen auf den Bildschirm, der in dem Aufenthaltsraum der Polizeidienststelle St. Vith aufgestellt ist und das ihnen allen bekannte Logo der belgischen Polizei zeigt – allerdings ergänzt durch den Schriftzug „Freie Republik Ost-Belgien“, Für halb elf hatte der Chef der Polizeizone Eifel eine wichtige Verlautbarung angekündigt und so haben sich alle Polizisten, die nicht gerade im Aussendienst sind, in der Dienststelle in der Aachener Strasse versammelt.

Der Bildschirm flackert und ein Gesicht erscheint. Allerdings nicht das ihres Vorgesetzten, sondern das von. Franck Meester von der Dienststelle Burg Reuland. Einige Polizisten stöhnen auf, als sie Meesters erblicken. Der Mann ist unter den Kollegen in etwa so beliebt wie ein Beinbruch. Dass er glühender Anhänger der FOB war, machte ihn nicht sympathischer.

Nun räuspert sich der Mann im Monitor, und zeigt sein Haifischgrinsen. „Liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich darf Ihnen mitteilen, dass Präsident Muehlen mich mit sofortiger Wirkung zum Chef der Polizei der Republik Ost-Belgien ernannt hat.“ Ein ungläubiges Raunen geht durch die Menge, doch Meester fährt unbeirrt fort. „Diese umfasst alle Einheiten der Polizeizone Eifel, die auf dem Gebiet unserer Republik liegen. Dem bisherigen Chef der Eifelzone dankte Präsident Muehlen ausdrücklich für seine geleisteten Dienste. Er wird nach sich nach einem wohlverdienten Erholungsurlaub neuen Aufgaben widmen …“ Nun trieft Meesters Stimme geradezu vor Ironie “… als Kontakt-Beamter!“ Unmutsäusserungen sind zu hören – eine derart demütigende Degradierung war beispiellos in der Geschichte der belgischen Polizei und konnte wohl nur damit erklärt werden, dass der solcherart Geschasste ein persönlicher Intimfeind des neuen Präsidenten war. Ungerührt von der Empörung seiner Kollegen redet Meester weiter: „Bis unsere Republik eine funktionierende Zollbehörde aufgebaut hat, werden Einheiten der Polizei die Aufgabe der Grenzsicherung übernehmen. Sie erhalten in den nächsten Tagen entsprechende Einsatzpläne. Es lebe die Freie Republik Ost-Belgien!“

Damit wurde der Bildschirm schwarz. Die im Raum befindlichen Frauen und Männer sind still geworden, sehen sich ungläubig an. Marcel hat das Gefühl, im falschen Film zu sein. „Das darf doch nicht wahr sein …“ murmelt eine Kollegien fassungslos.

Samstag, 15. Juni 2019, 14:32 Uhr
Es giesst in Strömen, als Katja in ihrem Geländewagen den Parkplatz des Grenzland-Marktes in Büllingen verlässt. Sie ist in Eile, denn ihr Wocheneinkauf für das Restaurant hatte länger gedauert als geplant. Obwohl sämtliche Kassen des Marktes geöffnet hatten, waren die Schlangen davor immer länger geworden. Seit der ostbelgische Finanzminister einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz von 9,5% auf alle Nahrungsmittel festgesetzt hatte, waren die meisten Artikel viel billiger als in Deutschland. In Folge kamen die Leute bis aus dem Bergischen Land und packten sich den Kofferraum voller Lebensmittel, um dann über die „Grüne  Grenze“ zurück zu fahren. Selbst eine bekannte Krimi-Autorin, die einige Jahre auf der Kehr gelebt hat, soll gesichtet worden sein, wie sie grössere Mengen hochwertiger Whiskies und zahlreiche Stangen Zigaretten in den Kofferraum ihres brandneuen Jaguar XF Sportbrake verlud …

Das provisorische Zollhäuschen der Freien Republik Ost-Belgien war verlassen. Der Beamte, der dort stehen sollte, hatte sich vor dem ungemütlichen Wetter in den Markt geflüchtet und wärmte sich bei einem Kaffee auf. Nicht so der deutsche Zöllner. Er kommt aus seinem Containerhäuschen heraus,durch Dienstmütze und Regenmantel vor dem prasselnden Regen geschützt und bedeutet Katja, anzuhalten. „Guten Tag. Haben Sie etwas zu verzollen?“. Katja schaut ihn einen Moment lang ratlos an und unterstreicht mit einem Kopfschütteln ihr „Äh, nee. Nicht dass ich wüsste …“.

Sie will bereits wieder den Gang einlegen, als der Zöllner sie auffordert „Dann öffnen Sie doch bitte mal den Kofferraum!“. „Bei DEM Regen? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ fragt sie. Als Antwort versteinert sich die Miene des Beamten: „Fahren Sie hier rechts ran und stellen den Motor ab! Öffnen Sie die Heckklappe und entfernen Sie die Abdeckung!“ herrscht der Beamte sie an. Mit einem wütenden Blick kommt Katja den Aufforderungen nach. Bereits als sie die Heckklappe öffnet, ist Katja patschnass und stellt erschrocken fest, dass sich durch das nasse T-Shirt nicht nur der BH, sondern auch ihre Brustwarzen deutlich abzeichnen …

„Soso, Sie haben also nichts zu verzollen?“ fragt der Zöllner mit leicht spöttischem Unterton, zeigt auf den randvoll mit Lebensmitteln gefüllten Kofferraum. „Und das da – was ist das?“. „Das? Das … das sind meine üblichen Wocheneinkäufe für mein Restaurant, die …“ antwortet Katja unsicher, wird aber von dem deutschen Beamten rüde unterbrochen “… die die zulässigen Freimengen um ein vielfaches überschreiten! Einmal abgesehen davon, dass diese Freimengen nur für den privaten Eigengebrauch gelten und nicht für gewerbliche Zwecke. Da sie die Waren jedoch laut eigener Aussage zur Weiterverarbeitung in Ihrem Restaurant erworben haben, liegt ein solcher Zweck eindeutig vor. Was Sie hier machen, erfüllt den Tatbestand des gewerblichen Schmuggelns! Das wird teuer, sehr teuer, Frau … “ er sieht auf die Papiere, die ihm Katja zwischenzeitlich ausgehändigt hatte „… Klein. Das kann im Wiederholungsfall mit Haftstrafe geahndet werden. Und jetzt rufe ich die Kollegen in Aachen an. Die sollen rauskommen und sich den Inhalt Ihres Kofferraums ansehen. Der Wagen ist vorläufig beschlagnahmt. Den Schlüssel und die Wagenpapiere bitte!“. verlangt der Beamte und unterstreicht seine Forderung mit einer entsprechenden Handbewegung. Katja ahnt, dass die „Einkehr“ heute wohl nicht pünktlich öffnen würde …

Freitag, 21. Juni 2019
„Du hast Post.“ begrüsst Marcel seine Freundin, als sie zur Haustür hereinkommt „Was denn diesmal?“ fragt Katja mit belegter Stimme. Erst gestern war ein Schreiben des Aachener Hauptzollamts angekommen, in dem Katja mitgeteilt wurde, dass man ihren „Fall“ an die Staatsanwaltschaft Aachen zur weiteren Verfolgung weitergeleitet habe. Entsprechend schlecht ist Katjas Laune.

„Nimm einen Kaffee und sei tapfer“ . Marcel geht zur Kaffeemaschine und füllt einen Pott mit der dampfenden Flüssigkeit, den er seiner Freundin zusammen mit einem Briefumschlag gibt, der das Emblem der Freien Republik Ost-Belgiens trägt sowie den Aufdruck „Ausländerbehörde“. Katja stellt den Kaffee beiseite, reisst den Umschlag auf, fingert das Schreiben heraus und überfliegt den Brief. Stöhnend lässt sie sich auf einen der Küchenstühle nieder.

„Was ist?“ fragt Marcel besorgt. „Die sind ja total gaga“ stöhnt Katja. „Man teilt mir mit, dass ich im Einwohner-Register als Ausländerin geführt werde. Als solche darf ich  in der Freien Republik  Ostbelgien keinen Immobilienbesitz haben. Ich soll nun innerhalb von zehn Tagen nachweisen, dass ich doch Bürgerin der Freien Republik Ost-Belgien  bin,“ fährt sie fort, wobei sie das Wort „Ost-Belgien“ betont, „Wenn nicht, fällt das Haus an den Staat und ich erhalte eine Entschädigung in Höhe des ortsüblichen Preises! Alternativ kann ich einen Antrag auf Einbürgerung stellen oder eine jährlich zu erneuernde Aufenthaltsgenehmigung – unter Angabe meiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse- damit ich auch ja nicht irgendwann dem Staat zur Last falle …“.

Mit einer heftigen Bewegung zerreisst Katja das Schreiben und schmeisst es auf den Boden „Das ist ja Kleinstaaterei wie im Mittelalter!“ resümiert sie wütend und haut mit den Fäusten auf die Stuhllehnen. „Der Herr Präsident Muehlen und seine FOB können mich mal am A… lecken!“ setzt sie in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung nach.

„Na ja“ meint Marcel zögerlich und kommt langsam auf Katja zu. „Das mit der Aufenthaltsgenehmigung kann man auch anders machen.“ Katja schaut ihn irritiert an „Aha. Und wie?“ „Ausländische Ehepartner ostbelgischer Staatsbürger“ beginnt Marcel, macht dann eine Pause, bevor er weiterspricht „bekommen automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung …“. „Ja und?“ fragt Katja. Mittlerweile steht Marcel vor Katja, ergreift plötzlich ihre Hände und geht vor seiner Freundin auf die Knie. „Was, was …?“ stammelt sie, während Marcel den Blickkontakt zu ihr sucht. Als ihre Augen sich gefunden haben, fragt Marcel mit leiser Stimme „Katja, willst du meine Frau werden?“

Nur das Tick-Tack der alten Wanduhr ist zu hören. Katja schaut Marcel ungläubig an. „Ob … ob ich …“  stammelt sie unsicher „deine … Frau? …“ „Willst du?“ wiederholt Marcel mit ängstlichem Blick. „Ich … nein, äh ja, das heisst, keine Ahnung. Ich weiss nicht, was ich sagen soll …“. „Wie wäre es, wenn du einfach ‘ja’ sagst?“ fragt Marcel und versucht ein Lächeln. „Ich …“ beginnt Katja wieder, „Ich …“.

In dem Moment fliegt die Haustür auf und Gudrun stürmt herein. „Schnell, Marcel, Katja! Kommt schnell! David wird gerade in der ‘Einkehr’ zusammengeschlagen!“ Marcel springt auf und greift nach dem Gürtel mit seiner Dienstwaffe. „Ist der Kayser mit ah ypsilon denn nicht da?“ fragt er, während er zur Tür hinaus rennt. „Nein“ heult Gudrun, „der ist schon im Wochenende!“. „Was ist denn überhaupt passiert?“ hakt Katja nach, die nun ebenfalls aufgesprungen ist. Als sie aus dem Haus kommen, fährt ein altersschwacher VW Golf mit quietschenden Reifen und aufheulendem Motor vom Parkplatz auf die Bundesstrasse Richtung Prüm.

Als die beiden Frauen das Restaurant erreichen, ist Marcel bereits dabei, David zu verarzten, der eine Platzwunde an der Stirn hat und kräftig aus der Nase blutet. Gudrun schlägt bei diesem Anblick die Hände vor den Mund „Mein Gott, David! Was haben die mit dir gemacht? Drei gegen einen, wie unfair! heult sie auf. „Schon OK“, meint der Amerikaner und versucht ein Lächeln, „denen habe ich auch ordentlich eingeschenkt …“. „Was ist denn geschehen?“ fragt Katja, noch immer verdattert.

„Ach, das waren so n paar Glatzköpfe, Neonazis, die am liebsten Ost-Belgien wieder ‘heim ins Reich’ holen würden Da Gudrun gerade für kleine Mädchen war, habe ich denen das Bier an den Tisch gebracht“ berichtet David. „Dabei haben sie wohl an meinem Akzent gehört, dass ich Amerikaner bin und fingen an, zu pöbeln, von wegen, wir Amis wären Massenmörder, siehe Korea, Vietnam und natürlich auch Dresden..“

Irgendwann wurde mir das zu blöd und ich habe die Drei aufgefordert, das Restaurant zu verlassen. Daraufhin sprang die erste Glatze auf, brüllte, als anständiger DEUTSCHER würde er sich nicht  von einem SCHEISSAMI aus einem DEUTSCHEN Restaurant schmeissen lassen und griff mich an. Die beiden Anderen taten es ihm gleich. Die haben ordentlich Dresche bezogen, – konnten ja nicht ahnen, dass ich das  Einzelkämpfer-Abzeichen habe. Und als Marcel reingestürmt kam, haben die Buben wohl Schiss gekriegt. Einer hat mit nem Stuhl nach Marcel geschmissen und dann haben sie die Gelegenheit genutzt und sind abgehauen.“ grinst David und offenbart dabei eine frisch entstandene Zahnlücke.

„Oh Gott!“ stöhnt Katja. „Ost-Belgien wird immer mehr zum Albtraum …“

Donnerstag, 27. Juni 2019, 06:47
„Da kommen sie!“ flüstert Marcel seinem Kollegen zu. „Na endlich!“ gibt dieser ebenso leise zurück. Seit drei Tagen liegen die beiden Polizisten in den frühen Morgenstunden im Wäldchen zwischen der belgischen N626 und der deutschen B265 auf der Lauer. Eine Pilzesammlerin aus dem belgischen Lanzerath hatte die Polizei informiert, dass sie im Wald nördlich des Ortes frühmorgens mehrmals zwei Personen mit grossen  Rucksäcken gesehen hätte. Beim Anblick der Frau seien sie jedes Mal davongelaufen.

Der frischgebackene neue Polizeipräsident mutmasste, dass es sich um Schmuggler handelte und schickte Marcel und seinen Kollegen Edy Cramer auf nächtliche Patrouille im Lanzerather Wald. „Denken Sie an wetterfeste Kleidung“ hatte Franck Meester ihnen mit seinem Haifischgrinsen mit auf den Weg gegeben, „es ist Regen angesagt!“. Die „Faust in der Tasche“ bedankten sich beide Polizisten bei ihrem Vorgesetzten. Ihnen war klar, dass dieses Kommando Meesters Rache dafür war, dass sie aus ihrer Antipathie gegenüber Lucien Muehlen und seiner FOB keinen Hehl machten …

„Lassen wir sie an uns vorbeiziehen und dann packen wir sie von hinten.“ raunt Marcel Edy zu, der zur Bestätigung nickt. Während die beiden schemenhaften Gestalten sich langsam aus dem Morgennebel schälen, pressen sich die beiden Polizisten näher an den Erdhügel, hinter dem sie Stellung bezogen hatten. „Jetzt!“ zischt Marcel. „Stehenbleiben, Polizei!“ ruft Edy, während sie aus ihrer Deckung aufspringen und auf die beiden Gestalten zukommen. Diese drehen sich erschrocken um, erblicken die Polizisten, die mit gezogener Waffe auf sie zurennen und – geben Fersengeld! So schnell sie können, laufen die Ertappten zunächst weiter den Waldweg entlang, schlagen sich dann aber – der eine rechts, der andere links – ins Gehölz. „Geh du nach links!“ ruft Marcel seinem Kollegen zu, während er selber nach rechts einbiegt. Äste schlagen ihm ins Gesicht, der Boden ist von Baumwurzeln durchzogen und vom Regen matschig. Hinter sich hört Marcel einen Schmerzensschrei: Edy ist gestürzt und hat sich – wie sich später herausstellen wird – den rechten Fuss gebrochen.

Marcel ringt nach Luft, seine Lungen scheinen zu platzen, er war eindeutig nicht mehr in dem Alter für solche filmreifen Verfolgungsjagden. Die Gestalt, der er nachsetzte, entfernte sich immer weiter von ihm. „Stop!“ hechelt er kurzatmig. „Poli … zei! Stehen bleiben – oder – ich schie …“. Bevor Marcel den Satz beenden kann, rutscht der Verfolgte auf einer nassen Baumwurzel aus, gerät ins Straucheln, versucht vergeblich, das Gleichgewicht zu halten und fällt der Länge hin. Im Nu ist Marcel vor Ort, packt die Gestalt an der Schulter, dreht sie auf den Rücken und – blickt in ein ihm durchaus bekanntes Gesicht! „Pia – Godverdamme! Was machst du denn hier? Ich denke, du studierst in Köln! Los, steh auf!“ herrscht er das Mädchen an. „Tu ich ja auch“ antwortet sie, während sie sich Matsch aus dem Gesicht wischt und auf die Beine kommt. „Aber Studieren in Köln ist nicht gerade billig“ verteidigt sie sich. „Und da wolltest du dir mit ein bisschen Schmuggeln was nebenbei verdienen, ja?!“ Pia nickt schuldbewusst. „Was denn eigentlich?“ hakt Marcel nach und öffnet den Rucksack, den das Mädchen beim Sturz verloren hat.

„Djü … Das … das glaub’ ich jetzt nicht!“ stöhnt der Polizist, greift in den Rucksack und hält Pia eine Handvoll Textilien vor das Gesicht. „DAS schmuggelt ihr?“ fragt er fassungslos. „Ja!“ antwortet das Mädchen trotzig. „Dessous! Spitzenhöschen und Tittentüten. Keine Ahnung, warum die bei euch in Ost-Belgien plötzlich so beliebt  sind. Ist aber so. Die Und da hatte Mario, ein Kommilitone, der aus Bütgenbach kommt, die Idee, man könnte doch …“ “… Unterwäsche schmuggeln“ vollendet Marcel den Satz und schüttelt den Kopf. „Ich glaub’, ich bin im falschen Film …“

Sonntag, 30 Juni 2019, 02:18 Uhr
Erschöpft schliesst Katja die Tür ihres Restaurants ab. Am frühen Abend war die Gruppe schottischer Nationalisten auf ihrem Rückweg buchstäblich in das Restaurant eingefallen und hatte zusammen mit Lucien Muehlen und zahlreichen FOB-Mitgliedern die Unabhängigkeit Ostbelgiens gefeiert, Im weiteren Verlauf gesellten sich noch etliche Aktivisten des „Vlaams Belang“ sowie der AfD hinzu, was dem Niveau der lauthals krakelten Äusserungen nicht gerade zuträglich war …

Zuhause angekommen hat Katja nicht mehr die Kraft, sich auszuziehen. Sie sinkt auf die Couch im Wohnzimmer und ist innerhalb kürzester Zeit eingeschlafen. Marcel legt sich daneben und deckt sie beide zu.

Samstag, 8. Juni 2019, 04:36 Uhr
Mit einem lauten Schrei fährt Katja hoch, sitzt zitternd aufrecht. „Djü“ murmelt Marcel verschlafen „Was ist denn passiert?“ „Ich habe einen scheiss Albtraum gehabt …“ beginnt Katja, während sie sich an ihn klammert. „Ich hab geträumt, Muehlen und seine FOB hätten die Wahl haushoch gewonnen, Ostbelgien hätte sich vom Königreich abgekehrt und für unabhängig erklärt. Wir waren plötzlich isoliert, weil nicht mehr in der EU. jedes Mal, wenn ich rüber in die Einkehr wollte, musste ich meinen Pass zeigen, weil, die Grenze … und die Leute haben erst noch gefeiert und Feuerwerk abgebrannt und …“

Marcel löst Katjas Umklammerung, nimmt sie in den Arm und legt ihr einen Zeigefinger auf den Mund. „Pssst. Das reicht jetzt. Genug Horror für heute. Die Schotten haben uns wohl alle geschafft. Aber Muehlen und seine Kumpane – das sind nur einige wenige Spinner. Die und die Wahl gewinnen – so’n Kappes.“. „Hast ja Recht“ meint Katja schon wieder im Halbschlaf und kuschelt sich an Marcel. „Hatte auch was Gutes“ lächelt sie ihren Freund an. Marcel schaut sie fragend an und Katja fährt fort „Du hast mir nämlich einen Hei..“ – in diesem Moment explodiert draussen ein Meer von Farben, begleitet vom Knall detonierender  Feuerwerkskörper und begeisterten „Wir sind frei!“-Rufen ….

„Nein!“ schreit Katja und hält sich die Ohren zu. „Bitte nicht!“. Marcel springt auf, zieht sich seine Schuhe an und geht zur Tür. „Ich seh’ mal nach, was da draussen los ist.“ Wenig später kommt er lachend zurück. „Alles gut“ beruhigt er Katja, während er sich wieder zu ihr legt. Das sind nur ein paar Jungs vom Junggesellenverein St. Vith. Die feiern, dass sie wieder ein halbes Jahr geschafft haben, ohne dass eine Frau sie ‘eingefangen’ hat. Du hast das alles nur geträumt. Kein Wunder, bei dem Rummel mit den Schotten gestern!“.

Katja kuschelt sich wieder an ihren Freund. Während sie einschlummert, denkt sie: „Alles nur geträumt? Schade eigentlich – dann war also auch dein Heiratsantrag nur ein Traum …“. Noch bevor Marcel antworten kann, sind Beide eng umschlungen eingeschlafen.